“You know there's something lurking underneath the shape
With a mask over it's head and makeup on his face
Into the house of mirrors goes a clown and his elf
Take a look in the mirror and see the clown in yourself”
aus: Carousel von Mr. Bungle
Die Verbindung von Sammeln und die Produktion von Kunst hat eine lange Tradition: Bereits die Ateliers der Künstler der Renaissance bargen Ansammlungen von Gegenständen, Abgüssen, Druckgrafiken, Kuriositäten aller Art, die bei Bedarf als Vorlagen dienen sollten. Elisabeth Schmirl (*1980) sammelt im Gegensatz dazu Bilder in digitaler Form, basierend auf intensiven Recherchen im Internet. Ihr Fokus richtet sich dabei nicht auf das Sammeln, sondern auf das Suchen. Es ist ein wichtiger Bestandteil des menschlichen Lebens. Wir suchen nach allem Möglichen und Unmöglichen, nach Banalem und Vergeistigtem, nach Schönem, nach Gott und der Wahrheit, im Konkreten wie im Abstrakten. Die vermeintliche Einschränkung der Suche auf eine virtuelle Darstellung eröffnet einen schier unendlichen Kosmos – die bereits fast sprichwörtliche Bilderflut unseres digitalen Zeitalters, die sich im Internet im Prinzip einfach finden lässt, Bilder, die von Userinnen und Usern auf Websites, Blogs, in Foren, sozialen Netzwerken und dergleichen gepostet und damit öffentlich zugänglich gemacht werden. Ganz so einfach macht sich Elisabeth Schmirl ihre Bildersuche aber natürlich nicht. Ihr Fahnden vollführt sie in definierten Bahnen, die von Stichworten, thematischen Vorgaben und persönlichen Vorlieben, der Suche nach speziellen Oberflächen oder durch Assoziationsketten geprägt sind. Erweitert wird die versprachlichte Suche nach Bildern inzwischen durch die Suche mit Bildern nach Bildern, womit die Künstlerin für sich neue Kanäle öffnet, aber auch eigene Bilder, die bereits auf dem Computer bearbeitet wurden, gewissermaßen nachschlägt. Nach Kategorien wie Raum/Bühne, Maske, Gruppe, Männer, Frauen oder Ich, denen eine besondere Bedeutung zukommt, werden die Trouvaillen von Elisabeth Schmirl gruppiert, immer wieder erweitert und zu einer sehr spezifischen Sammlung generiert, aus der sie für ihre eigenen Werke schöpft. Ihren Fundus versteht sie als Sammlung ohne Vollständigkeitsanspruch. Er ist ein gut gehütetes Gefüge und ein sehr persönliches Geflecht an Beziehungen, das wir über ihre Werke nur fragmentarisch kennenlernen können und dazu eingeladen werden, es – gepaart mit Eindrücken aus unserem eigenen kollektiven Bildgedächtnis – zu entschlüsseln. Die Künstlerin generiert ihr „,gefundenes‘ Archiv vor allem im Hinblick auf seine soziopolitische, medienanalytische und genderspezifische Bedeutung“, wie sie selbst sagt.
Die Geschichte der Rezeption von Medienbildern reicht in der Kunstgeschichte bis in die 1960er Jahre zurück, in denen beispielsweise bereits Andy Warhol Zeitungs- und Magazinabbildungen als Vorlagen für seine Werke verwendete. Der Fokus hat sich in der Zwischenzeit von Zeitungen über Reklametafeln auf digitale Bilder aus dem World Wide Web verlagert. Eine ganze Generation jüngerer Künstlerinnen und Künstler hat sich der Medienrezeption verschrieben, Elisabeth Schmirl jedoch verleiht dieser durch die Stringenz ihrer Themengebiete und ihre formale Umsetzung – in Gemälden ebenso wie Arbeiten auf Papier – einer farblich zurückhaltenden, in ihrer Komposition aber direkt auf eine besondere Nähe zu den Betrachterinnen und Betrachtern ausgerichteten Arbeitsweise eine besonders nachhaltige Wirkung.1 Zunächst beschränkte sich die Bildersuche der Künstlerin auf Begriffe wie „me“, „Ich“ oder den Vornamen der Künstlerin, inzwischen erweiterte sie ihr Spektrum auf die eingangs genannten Motive. Bar jeglicher zusätzlicher Information werden die einstigen (Selbst-)Porträts der dargestellten Personen, da meist Frauen und junge Mädchen, zu universellen Repräsentantinnen ihrer Zeit. Mehr als die Kleidung oder der Stil ihrer Accessoires ist es ihr Umgang mit der Kamera, das Selbstverständnis ihrer Selbstinszenierung und ihre Posen, die sie als Menschen des 21. Jahrhunderts entlarven.
Ihre methodische Suche nach und mit Hilfe digitalen Bildmaterials, des Durchforstens von Bildern nach Themen und Stichworten wandte sie auch in ihrer Auseinandersetzung mit der Sammlungsdatenbank des Museums an; zunächst vorurteilsfrei ohne zusätzliche Informationen zum Künstler oder Werk, später anhand der Titel und vereinzelter Stichworte. Vordergründig waren es Werke mit bestimmten Oberflächen, Themenblöcke, die sich aus unterschiedlichen Sammlungsschwerpunkten zu unterschiedlichen Zeiten ergaben, die das Interesse der Künstlerin weckten und sich sofort und spontan in ihren visuellen Erfahrungsschatz eingliedern ließen. Die jeweils getroffene Auswahl – vor allem an druckgrafischen Werken und Fotografien – wurde in mehreren Arbeitsschritten immer mehr eingeschränkt, bis sie zu einer Quintessenz an Arbeiten gelangte. Gemeinsam mit den bereits in ihrem Archiv vorhandenen digitalen Bildern aus dem Internet und ihrem eigenen, ausgeprägten Bildgedächtnis bilden sie die Basis für eine neu entwickelte Serie von druckgrafischen Arbeiten. Nach der Bearbeitung auf dem Computer, der als Arbeitsinstrument eine wichtige Rolle spielt, produziert sie die Drucke im Gummitransferdruckverfahren als Unikate und bearbeitet sie im Anschluss an den Druckprozess mit der Walze malerisch.
Raum und Landschaft als Bühne der Sehnsucht
Elisabeth Schmirl kombiniert für ihre Werke mindestens zwei Bildvorlagen, von denen jeweils eine als eine Art Bühne oder Sehnsuchtsort verwendet wird, in die Zitate weiterer Werke – meist Personen oder Tiere als Protagonisten – eingesetzt und in Beziehung gebracht werden. Sie verändern somit nicht nur das Bildgefüge, sondern auch die bildimmanente Erzählung maßgeblich: Körperliche Verbindungen werden gebrochen und zuweilen neu geknüpft, Blickrichtungen und Beziehungen verändert, neue Erzählungen offeriert. Bei eingehender Betrachtung werden diese Überlagerungen der Bilder sichtbar. So kann man in der Arbeit Masquerade hinter der maskierten jungen Frau am rechten Rand der Frauengruppe noch die Hosenbeine der eigentlich zur Gruppe gehörenden Person erkennen. Nicht selten vollführen diese Bildgefüge in ihrer Komposition aus Bühne und Protagonisten einen Zeitsprung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, der – manchmal über mehrere Ebenen geführt – unmittelbar mit der Betrachterin oder dem Betrachter und deren subjektiver Interpretation des Werkes enden.
Zwei Grafiken von Karl Korab (*1937) aus einer Serie von Radierungen zu Texten von Adalbert Stifter sind Landschaften, die in der Tradition der Romantik für die Künstlerin Sehnsuchtsorte darstellen, in die sich jeder, auch die Betrachterinnen und Betrachter, hineinwünschen können, die als Ideal und Utopie zwar unerreichbare Desiderata bleiben, aber auch nur gepaart mit dieser physischen Unerreichbarkeit existieren können. Die Leerstellen in der Landschaft werden zu einem Projektionsraum für unsere Sehnsucht. Daher betitelte Elisabeth Schmirl ihre dazu entstandenen Werke mit Addictive Yearning und öffnet durch die Verdoppelung des einen Blattes eine weitere Assoziationskette. Die englische Übersetzung des deutschen Wortes „Sehnsucht“ unterstreicht die menschliche Sucht des Verlangens nach etwas, wobei oft nicht das Objekt oder der Raum selbst ausschlaggebend sind, sondern das Gefühl, das diese Sehnsucht vermittelt es ist, wonach wir uns verzehren. Die Sucht bezieht sich außerdem auf das positiv wie negativ besetzte Gefühl der Unvollständigkeit der eigenen Existenz.
Was geschieht jedoch, wenn unsere Sehnsüchte tatsächlich Wirklichkeit werden? Welche Funktionen hat Utopia für uns? Was wird in unserem Wohnzimmer daraus? Diese und ähnliche Fragen formuliert Elisabeth Schmirl mit ihren Arbeiten und stellt dabei zum Beispiel das Bild eines mechanischen Elefanten der amerikanischen Firma Messmore & Damon aus dem Jahr 1939 vor einen Supermarkt mit dem Namen Utopia. Unterschiedliche Sehnsüchte und Idealvorstellungen hatten die Techniker bei Messmore & Damon dazu veranlasst, ihren mechanischen Elefanten für die New Yorker Weltausstellung 1939 so zu konstruieren, dass er zu Bewegungen des Rüssels, der Ohren, des gesamten Kopfes und des Schwanzes fähig war und ihm so Leben eingehaucht werden konnte. Lediglich fortbewegen konnte er sich nicht. Trotz aller Bemühungen blieb der Elefant schlicht das Abbild eines Elefanten, das in einen neuen Kontext gestellt wurde. Ebenso bleibt der Elefant in Francisco de Goyas (1746-1828) Radierung Torheit des Tiers aus der Mappe Los Proverbios (1810-15, Blatt 21;) das Bild eines Künstlers, der im Gegensatz zum Menschen des 21. Jahrhunderts dieses Tier nur aus Erzählungen kennt, aber ganz offensichtlich noch nie gesehen hat. Der Elefant vermittelt – wie viele andere Tiere – Charakteristika wie Stärke, ist gegenüber den ängstlichen Menschen furchteinflössend, gleichzeitig jedoch friedlich und beunruhigend.2 Das Bild des Elefanten wird zu einer illustrativen Erzählung, wie und was ein Elefant sein kann.
„Das Narrativ zeichnet sich dadurch aus, dass es nicht überprüfbar ist, sich aber wahr anhört.“
Sascha Lobo
Wie im Märchen
Märchen, Erzählungen und Fabeln sind ein Themenbereich, der Elisabeth Schmirl besonders fasziniert und zu Überlegungen anregt, wie Narration funktioniert, was eine „gute Geschichte“ ausmacht und durch welch wenige Mittel in unserer optisch fokussierten Welt im Alltagsleben schon Geschichten entstehen können. Bei ihrer Recherche im Archiv des Museums stieß die Künstlerin daher zwar zufällig, aber wohl aus gutem Grund auf den englischen Künstler David Hockney (*1937) und seine Illustrationen zu sechs ausgewählten Märchen der Gebrüder Grimm, die unter dem Titel Six Fairy Tales of the Brothers Grimm von Mai bis November 1969 entstanden waren. Neben „Klassikern“ wie Rapunzel und Rumpelstilzchen suchte Hockney sich weniger bekannte Märchen wie Oll Rinkrank oder das Märchen von einem der auszog, das Fürchten zu lernen aus. Die Besonderheit dieses Grafikzyklus liegt in der Umsetzung der Stimmung, welche die Märchen vermitteln ohne sich zu sehr am Text zu orientieren. In seinen Radierungen verbindet Hockney die Nähe zur Erzählung gleichwertig mit der formalen Umsetzung seiner Problemstellung. Dass Elisabeth Schmirl zwei einzelne Blätter aus der Serie ausgesucht hat und diese als Bühne beziehungsweise Kulisse verwendet, setzt einen Grundgedanken Hockneys fort, der seine Räume ebenfalls als Bühnen versteht, bewusst Gegenüberstellungen von Figur und Raum setzt und unterschiedliche Lösungsansätze anbietet. Nicht nur in seinem grafischen Oeuvre stellt die Behandlung von Raum und Fläche, ihre Abgeschlossenheit eine Besonderheit dar. Im Blatt Home zum Märchen eines der auszog, das Fürchten zu lernen wird der Blick über einen leeren Lehnstuhl auf das zentrale große Fenster geführt und somit die Leere unterstrichen, die bleibt, wenn jemand einen Raum oder Ort verlässt. Der Raum ist nicht einfach menschenleer, sondern es scheint, als wäre der Junge soeben aus dem Fauteuil aufgestanden und dem Märchen entsprechend „hinausgezogen, um das Fürchten zu lernen“.
L’esprit de l’escalier3 betitelt Elisabeth Schmirl ihre Adaption des Blattes und
setzt vordergründig die Figur einer jungen Frau in diese Bühne, die mit Blick auf das Fauteuil dessen Leere betont. Mit der Geschichte des Märchens im Hinterkopf suggeriert man, dass die junge
Frau in ihrer angespannten, in sich gekehrten Körperhaltung und dem Knabbern an den Fingernägeln gerade ein gewisses Unbehagen als Referenz auf die gesuchte Furcht erlebt. Sie hat den jungen Mann
knapp versäumt.
In einem weiteren Blatt zu diesem Märchen ignoriert dieser das hinter ihm stehende Schreckgespenst. Während im Original nur die beiden Männer zu sehen sind, die nicht miteinander interagieren,
fügte Elisabeth Schmirl auf Armeslänge vor dem jüngeren ein junges maskiertes Mädchen hinzu, deren Blick zwar auf den Furchtlosen gerichtet ist, deren Körper sich aber deutlich von ihm abwendet.
Indem die Künstlerin die Leere füllt, aber keine Berührung zwischen den beiden zulässt, unterstreicht sie die bildimmanente Spannung.
Maskierte stellen einen roten Faden im Werk Elisabeth Schmirls dar. Sie verstecken ihre wahres Ich hinter den Larven, über die von ihnen eingenommene Rolle, geben sie aber doch Hinweise auf die
Leseweise der Bilder. Frühere Gemälde betitelte die Künstlerin mit Staged Visions of the Real Me, Mask Me oder Cyberdiscourse on
Selfdefinition und hinterfragt so unser Selbstbild und die Definition und Inszenierung unserer Identität. Als erweiterte Leseweise des Bildes, die von der Künstlerin nicht vordergründig
so intendiert war, verknüpft sie mit dem als Katze maskierten Mädchen zwei zeitlich hintereinander liegende Erlebnisse des jungen Mannes: Sie
verkörpert in verniedlichter Form die Katzen, die den Furchtlosen in seiner ersten Nacht im Schloss heimsuchen, während der Mann eines der in den Nächten auftauchenden Schreckgespenster ist. Als
Katzenfrau ist das Mädchen nur ein Beispiel für die oft auftretende Vermenschlichung von Tieren in Märchen wie beispielsweise im Gestiefelten Kater oder den Bremer Stadtmusikanten
oder die anthropomorphen Hauptfiguren in literarischen Werken wie George Orwells Animal Farm. Hybride Formen von Menschen mit Tierköpfen und -körpern tauchen in unterschiedlichen Kulturen
auf; Beispiele hierfür sind etwa die ägyptische Sphinx, die hinduistische Göttin Durga oder die Kentauren aus der griechischen Mythologie.4 Welche Bedeutung die Betrachterinnen und Betrachter in der Gegenüberstellung erkennen, wie sie die Geschichte weiter spinnen, bliebt ihnen überlassen.
In ihrer Verwendung von Hockneys Radierungen als Bühnen setzt Elisabeth Schmirl dessen Stilmittel des Zitats aus der Kunstgeschichte aber auch aus der Literatur fort, das vor allem in seinen
Gemälden einen eigenen Themenkomplex bildet. Auch Hockney stellt – nicht nur in seiner Porträtmalerei – Fragen der Wirklichkeitswiedergabe vor die
Darstellung von Personen an sich.6 Schmirl zitiert ihre Bildvorlagen jedoch nicht unverändert, auch wenn dies auf den ersten Blick so
erscheinen mag. Ganz nach Kurt Vonneguts „We are what we pretend to be, so we must be careful about what we pretend to be.”7 modifiziert sie ihre Bildvorlagen, verändert die Kontraste, verstärkt einzelne Farben und Formen, fügt mit ihrer Komposition eine persönliche Interpretation in das Bild
ein und stellt nicht zuletzt durch die Inkludierung neuer Figuren das ursprüngliche Bildgefüge auf den Kopf.
Gestern war heute morgen
Ebenso wie viele der Arbeiten Elisabeth Schmirls Zeuge vom Menschenbild unseres Medienzeitalters sind, so war der spanische Maler und Grafiker Francisco José
de Goya y Lucientes ein Kritiker des politischen und gesellschaftlichen Geschehens im Spanien seiner Zeit. Besonders die druckgrafischen Zyklen, die ab den 1790er Jahren entstanden waren – Los
Caprichos ca. 1796/97, Los Desastres de la Guerra 1810-20 und Los Proverbios (bzw. Los Disparates) 1815-23 – sind geprägt
von einer scharfsinnigen Gestaltungskraft, mit der er in Aquatinta- und Radiertechnik Blätter schuf, die sowohl als Einzelwerke wie auch als Ensemble auf dem „freien Markt“ verkauft wurden. In
der von Elisabeth Schmirl getroffenen Auswahl an Einzelblättern interessierte die Künstlerin weniger der sozialkritische Inhalt als die formale Umsetzung der Darstellung und deren Komposition.
Goya wie Schmirl verstehen ihr „Handwerk“ sehr gut und sind Perfektionisten in der Umsetzung ihrer Drucktechniken. Beiden ist die Erkennbarkeit der dargestellten Personen nicht wichtig, beide
präsentieren ihre Protagonisten ungeschönt und unmittelbar, beide beziehen bedingt Stellung und bieten ihre Werke als Diskussions- und Assoziationsgrundlage an.
Mit der Verwendung von Grafiken Goyas als Bühne verknüpft Elisabeth Schmirl unterschiedliche Zeitebenen miteinander: Ebenso wie man Goyas Menschen ihre Verortung im Spanien des späten 18. und
frühen 19. Jahrhunderts ansieht, so kann man vielen der von Schmirl verwendeten Personen das frühe 21. Jahrhundert zuordnen. Seit Beginn ihrer Arbeit an großformatigen Grafiken finden alte
Fotografien aus dem frühen 20. Jahrhundert Eingang in ihre Arbeit. Dies liegt weniger an einem speziellen Interesse an alten Fotos als an der Tatsache, dass offenbar auch am Auftauchen
bestimmter Fotografien im Internet Trends ablesbar sind. So ist es seit einigen Jahren auffällig, dass immer mehr historische Fotos digitalisiert und über das Web publiziert werden. Die
Gegenüberstellung alter und zeitgenössischer Aufnahmen ist also eine phänomenologische wie in gewissem Sinne kulturhistorische Fragestellung, deren Beantwortung an die Betrachterinnen und
Betrachter weitergeleitet wird: Wieso befinden sich gerade jetzt immer mehr dieser historischen Fotografien im Netz? In welcher Relation stehen sie zu den zeitgenössischen (Selbst-)Porträts, die
User von unterschiedlichen Foren und sozialen Netzwerken von sich selbst und Personen aus ihrem Freundeskreis online stellen? Wodurch unterscheidet sich die Repräsentation von Identität und
Selbstpräsentation? Ohne die Kenntnis der jeweils persönlichen Motive und Umstände bleibt die Beantwortung der Fragen im Bereich der Mutmaßung und einer formal-künstlerisch inszenierten und
arrangierten Gegenüberstellung verhaftet. In Masquerade faszinierte Elisabeth Schmirl beispielsweise die Gegenüberstellung von kostümierten Frauen zweier völlig unterschiedlicher, ein
Jahrhundert überspringender Generationen. Ihre Beziehung zu Fotograf und Fotoapparat und ihre Körperhaltung vor der Kamera lassen erkennen, dass die frühere Generation mit diesem Medium noch
keine großen Erfahrungen gemacht hat, dass sie es noch nicht gelernt haben zu posen und das Selbstverständnis ihrer gewählten Rolle zu präsentieren. Dies beherrscht die jüngere par
excellence.
Diesen und weiteren Arbeiten in der Ausstellung stellte Elisabeth Schmirl Werke aus der Österreichischen Fotogalerie insbesondere der Sammlung Fotografis der Bank Austria und Bundes gegenüber. Neben Werken von Lothar Rübelt (1901-1990) und Ernest James Bellocq (1873-1949) vermitteln vor allem die Fotografien von Heinrich Kühn (1866-1944) ein besonderes Interesse an Papier und Reproduktionstechnik seiner fotografischen Vorlagen. In der parallelen Präsentation zweier Versionen des gleichen Motivs – The Mirror, 1912 – wird evident, wie wichtig die Wahl des Werkgrundes und der Vervielfältigungsmethode ist: Die rotbraune Fotogravüre auf dünnem Papier wirkt nicht nur aufgrund des kleineren Formates weniger atmosphärisch als der rotbraune Gummidruckauf strukturiertem Büttenpapier. Da er manuelle Veränderungen an seinen Fotografien kategorisch ablehnte, ermöglichte ihm die Arbeit mit unterschiedlichen Drucktechniken, anhand unterschiedlicher Abzüge eines Motivs zum gewünschten Resultat zu kommen. Besonders das Gummidruckverfahren, das er weiterentwickeln konnte, erweiterte seine gestalterischen Möglichkeiten.8 Diese grafische Handhabung des fotografischen Ausgangsmaterials entspricht auch Elisabeth Schmirls Herangehensweise, auch sie präferiert für ihre Arbeiten auf Papier den Gummidruck, bzw. Gummitransferdruck. In der Papierwahl ist sie ebenso bedacht auf dessen Struktur und eine malerische Wirkung der Farbe auf dem Bildgrund.
"It is amazing how complete is the delusion that beauty is goodness."
Leo Tolstoi
Vom virtuellen Bild zur Körperlichkeit
Wie die Vorbilder für ihre Sujets suchte Elisabeth Schmirl also auch in der Sammlungsdatenbank des MdM Salzburg mit virtuellen Fotos nach Werken für ihre Ausstellung. Ihre Wahl fiel vornehmlich auf Arbeiten auf Papier – Grafiken, Zeichnungen und ein Buch sowie Fotografien, die im Grunde ebenfalls zu dieser Kategorie zu zählen sind. Für alle Werke – mit Ausnahme des solitären Gemäldes von Elisabeth Schmirl, das eines ihrer Hauptthemen an den Anfang stellt – wurde das Papier als Träger für die Darstellung gewählt. Während sowohl die Druckgrafik als auch die Fotografie in ihrer zweidimensionalen Präsentationsform in Rahmen verhaftet bleiben, erhalten sowohl das Buch als auch die Grafiken Elisabeth Schmirls eine räumliche Wirkungskraft. Mit Hilfe der freien Hängung der einzelnen Blätter an beweglichen Klammern und der Möglichkeit der Bewegtheit durch Luftzirkulationen im Raum gibt sie ihnen wieder einen Körper.
Die mehrteiligen Drucke sind jeweils Unikate, liegen ihnen doch bearbeitete Papierbögen als Druckplatten, welche im Werk gleich einer großen Kachelung deutlich sichtbar bleiben, zugrunde. Sie bearbeitet diese individuell mit der Walze und farbig abgemischtem Schwarz, das zum Teil die verwendeten Farbchangierungen durchschimmern lässt. Dadurch wird der malerische Charakter der Blätter vertieft, der bereits in der Bearbeitung auf dem Computer vorbereitet wurde und in der Intensivierung von Kontrasten, der Betonung oder beinahe Auslöschung einzelner Personen eine Akzentuierung fand. In der Arbeit Jagdgesellschaft/Hunting Spree beispielsweise wird die räumliche Gruppierung der ausschließlich aus Damen bestehenden Jagdgesellschaft der Wende zum 20. Jahrhundert durch das graduelle Verschwinden der im Hintergrund befindlichen Figuren unterstrichen. In ihrem Reigen springt die stärker kontrastierte Figur des jungen, zeitgenössischen Mädchens wieder nach vorne und verbindet somit auch formal sukzessive Bild- und Zeitebenen miteinander. Wie viele der Druckplatten auf einem Papierbogen vereint werden und wie dieser ausgerichtet ist, hängt jeweils vom Gesamtbild ab und entscheidet sich durch die Vorarbeiten auf dem Computer sowie durch die Komposition des resultierenden Werkes aus hoch- oder querformatigen Papierblättern, die einzelne Elemente betonen und das Gesamtbild rhythmisieren.
Die Werkserie re/collection von Elisabeth Schmirl verknüpft somit auf anschauliche Weise die Arbeit mit Sammlungen und Ausstellungen mit ihrer eigenen künstlerischen Arbeit: So wie Elisabeth Schmirl aus dem Bildarchiv des World Wide Web digitales Bildmaterial auswählt, gruppiert und als Malerei oder Grafik präsentiert, besteht jede Ausstellung aus einer kleinen Auswahl an Werken aus einer umfangreichen musealen Sammlung, die ebenso gruppiert und in Beziehung gesetzt wird. Was sich im Sinne des sprichwörtlichen Eisberges sonst unterhalb der Oberfläche befindet und somit unserer Wahrnehmung entzieht, wird hervorgeholt, in einen neuen, subjektiven Kontext und zur Diskussion gestellt. Elisabeth Schmirl setzt mit ihren neuen grafischen Arbeiten Impulse, die von ihr offerierte Assoziationskette selbst weiter zu führen und die Dialoge zwischen den Werken und uns als Betrachterinnen lebendig zu halten.
1 Vgl. dazu Tilman Treusch, Vom digitalen Image zum Gemälde. Notizen zum Bild im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: Hinter den Spiegeln. Elisabeth Schmirl, Munderfing: Aumayer druck + verlag 2011, S. 112-117.
2 Zum druckgrafischen Goyas siehe u.a.: Goya. Das druckgrafische Werk. Alfonso E. Pérez Sánchez und Julián Gállego (Hg.), München, New York: Prestel 1995.
3 Der Ausdruck „Treppenwitz“ ist die deutsche Entsprechung des französischen Begriffs nach Denis Diderot aus dem 18. Jahrhundert, der einen geistreichen Gedanken meint, der jemandem zu spät einfällt und gerade nicht mehr entsprechend ausgesprochen werden kann.
4 Eine eingehendere Analyse und kulturhistorische Abhandlung der Bedeutung von Hybriden würde leider den Rahmen dieser Publikation sprengen; an dieser Stelle kann lediglich ein Abriss der unterschiedlichen Formen anthropomorpher Tiere oder Mischwesen geboten werden.
5 Eine spezielle Untersuchung zum Zitat im Oeuvre Hockneys wurde von Alexandra Schumacher publiziert: Alexandra Schumacher, David Hockney. Zitat als Bildstrategie, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2003.
6 Vgl. ebd. S. 13.
7 Kurt Vonnegut, Introduction, in: Mother Night, 1966 [Erstausgabe 1961], S. V
8 Zusätzlich erfand er weitere Druckverfahren wie die Gummigravüre (1911), den Leimdruck (1915) und die Syngraphie. Zu Heinrich Kühn vgl. Ulrich Knapp, Heinrich Kühn. Photographien. Salzburg: Residenz Verlag 1988; Heinrich Kühn – Die vollkommene Fotografie, Monika Faber (Hg.), Hatje Cantz 2010.